Mein amerikanisches Tagebuch (23)
21. März 2019
Es regnet. Das erste Mal seit ich hier bin regnet es. Gestern bin ich von Studenten gefragt worden, was ich denn am meisten an Deutschland vermisse. Ich habe gesagt „Meine Kinder“ fand es aber vor allem merkwürdig, dass ich gefragt wurde, was ich an Deutschland vermisse. Ich lese ja zur Zeit das Buch ‚deutsch nicht dumpf – Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten‘ von Thea Dorn, ein Buch was mich ständig zum Widerspruch heraus fordert, was mich rasend macht, weil ich die Autorin nicht hier habe, um mich sofort mit ihr auseinander setzen zu können. In ihrem Buch verteidigt Thea Dorn eine aufgeklärte Heimatliebe, ein kritisches Bewusstsein seiner Identität. Da habe ich gar nichts dagegen. Sie beschreibt ihren Patriotismus als Wandeln auf einem schmalen Grat, verwendet viel Zeit und Mühe sich von dumpfen, ressentimentbeladenen, chauvinistischen Strömungen im Jetzt und Früher abzugrenzen. Da differenziert sie geschickt zwischen sehr verschiedenen konservativen und liberalen Positionen. Wenn es allerdings um das Gegenüber, den anderen Pol geht, sind das alles linke „Weltbürger“, Kosmopoliten (ein Begriff übrigens, dessen Geschichte sich Frau Dorn lieber mal etwas näher unter die Lupe nehmen sollte), die jedwede Heimatliebe verteufeln und letzten Endes sich selbst und uns alle ins Verderben stürzen. Es mag Menschen geben, die Heimat, Identität, Volk und Kultur alles gleichermaßen ablehnen, nur sind mir solche Menschen bisher noch nicht begegnet. Ich selbst halte es zum Beispiel durchaus für erstrebenswert, dass sich die ganze Welt in einem Staat vereint, dass es irgendwann einmal eine gemeinsame Sprache gibt, eine gemeinsame Kultur. Gleichzeitig liebe ich die deutsche Sprache, bin mir bewusst, eine kulturelle Identität zu besitzen und würde diese auch nicht „verteufeln“. Mir ist allerdings aufgefallen, und damit kommen wir wieder auf den Beginn zurück, dass ich „Deutschland“ gar nicht als meine Heimat empfinde. Meine Heimat gibt es nicht mehr. Meine Heimat ist die DDR. So sehr ich sie auch verabscheute, aber sie bleibt meine Heimat. Und damit wird vielleicht auch klar, worum es mir geht. Man kann etwas vermissen, man kann etwas im Herzen tragen und trotzdem woanders hin wollen. Denn lieber bin ich heute in Carlisle/Pennsylvania als erneut in Berlin-Hauptstadt der DDR zu weilen, selbst wenn ich beim Erinnern ein wenig Wehmut empfinde.
Tipp für heute: Grenzen überwinden, ohne sich vom Gepäck zu trennen.
14 Kommentare zu “Mein amerikanisches Tagebuch (23)”
01
Da ich das Buch von Thea Dorn nicht gelesen habe, kann ich dazu nichts sagen. Interessant finde ich, dass deine Heimat die DDR ist. Ich erinnere mich an Anstecker „Meine Heimat DDR“ von Anfang der Neunziger, mit denen ich seinerzeit nicht viel anfangen konnte. Ganz genauso ging es mir mit den „Ostalgie“-Partys. Heute geht es mir ähnlich wie dir. Und ich verstehe auch meinen Vater besser, dessen Heimat immer Bulgarien bleibt. Offensichtlich ist Heimat etwas, was sich nur schwer, oder besser gar nicht verändern lässt, unabhängig davon, ob sie verloren geht oder man sich nur räumlich von ihr entfernt. Es gibt aber (einmal mehr) eine deutsche Besonderheit. Eigentlich wollten wir eine bessere DDR. Das wissen heute viele gar nicht kam. Dass es anders kam und v.a. wie die Einheit vollzogen wurde, dazu hat uns niemand befragt. Im Gegensatz z.B. zu meinem Vater, der seine Heimat mehr oder weniger auf freien Stücken verlassen hat, obgleich auch er immer wieder Trauer über diesen Verlust empfand. Zu dieser Trauer gesellt sich, zumindest bei mir, auch immer ein gewisser Frust über das wie. Die Frage ist (so denke ich, und so verstehe ich auch deinen Beitrag), wie gehe ich mit der Trauer und dem Frust um. Eine Antwort findet man evtl. in Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“.
02
Danke für deinen Kommentar. Ich weiß gar nicht, ob es bei mir wirklich Trauer ist. Es ist eher eine Leere. Ich weiß, es ist nicht mehr da und wird nie wieder kommen. Ich glaube auch nicht, dass wirklich „wir“ eine bessere DDR wollten, zumindest wenn man das „wir“ verallgemeinert. Du vielleicht und ich und noch ein paar andere. Die Mehrheit hat aber das bekommen, was sie wollte, denke ich. Dass trotzdem viele frustriert sind, hat vielleicht eher mit deren schlechtem Erinnerungsvermögen zu tun.
03
Ich finde das sehr interessant, dass du dich fernab der „Heimat“ mit diesen Themen beschäftigst, weil es mir auf meinen Reisen ganz genauso geht, obwohl sich das auf den ersten Blick völlig unverständlich anhört. Ich erkläre es mir damit, dass man immer das andere, in dem Fall das Ausland braucht, um seine eigene Identität besser definieren zu können. Letztendlich, so denke ich, geht es um die Frage der eigenen Identität, wenn wir von Heimat sprechen. Ob das jetzt wirklich Trauer bei dir ist, das weiß ich natürlich nicht. Das kannst nur du wissen. Ich würde den von dir verwendeten Begriff „Wehmut“ aber in diese Richtung deuten. „Die Mehrheit hat aber das bekommen, was sie wollte“ hört sich für mich etwas trotzig und auch spalterisch an, woran unsere Zeit auch gerade krankt. Deshalb würde ich es für besser halten, bei sich zu bleiben und sich zu fragen, wo man das Spiel selbst mitgespielt hat. Angefangen beim Begrüßungsgeld, dass man sich geholt hat. Man wollte schließlich reisen (andere wollten schnelle Autos – wo ist der Unterschied?). Vor allem wollte man sich selbst ein Bild machen, so wie du jetzt auch in Amerika, was vorher nicht ging. (Man konnte ja nicht mal seine Oma in Neukölln besuchen.) Es war eben auch eine große Versuchung, der kaum jemand widerstehen konnte. (Ich persönliche kenne keinen, obwohl es wohl den ein oder anderen gegeben haben soll, der sein Begrüßungsgeld nicht abgeholt hat.) Der Dealer aus dem Westen hatte eben auch einfach den besseren Stoff, und wer wollte nicht den West-Test („Test The West!“) machen? Und so war man, wenn man ehrlich ist, auch hier insgesamt wohl eher ein Teil des Gesamt-Prozesses, auch wenn man am Anfang ganz andere Ideen und Ideale hatte, genauso wie man in der DDR eher ein Rad im Getriebe war, wenn man, so wie ich auch, beispielsweise zur Armee gegangen ist, auch wenn es nur der Grundwehrdienst war. Das auszusprechen gehört, so denke ich, zum Erinnern dazu, und trotzdem darf und sollte man auch über das WIE der weiteren Geschichte frustriert sein dürfen.
04
Ja, ich habe die Dinge, die sich mir boten, auch genossen. Ich bin, wenn auch etwas später als die meisten, da ich frustriert über die Maueröffnung gewesen bin, ebenfalls rüber, habe mein Begrüßungsgeld geholt, Bananen gegessen, Konzerte besucht, vor allem aber gestaunt. Dem „Spiel“ konnte und wollte ich mich gar nicht entziehen. Ich bin nur enttäuscht gewesen, dass durch den Zeitpunkt der Öffnung jegliches Interesse an der Zukunft des eigenen Landes (DDR) erstarb. Meiner Meinung nach ein Grund, weshalb die Vereinigung (der Beitritt) so hektisch geschah und danach so viele Minderwertigkeitsgefühle entstanden, woraus Fremdenhass resultierte. Weil du etwas von „spalten“ schreibst, ich glaube, es gibt sehr oft einfach unterschiedliche Interessen. Nur weil Menschen in einem Staat leben, müssen sie sich deshalb nicht ähnlich sein.
05
Meine jahrelange Beobachtungen im Taxi und meine eigene Lebenserfahrung sagen mir, dass Menschen, ganz abgesehen von ihren Interessen, ob sie jetzt Fussball spiel oder Briefmarken sammeln, alle sehr ähnlich sind, insbesondere ihr denken und fühlen. Oft ist es aber so, dass man das, was einem bei anderen missfällt, bei sich selbst nur nicht sehen will. Es ist, wenn du so willst, der bekannte Balken vorm eigenen Auge, der gerne mal übersehen wird. Zum Selbstschutz werden dann Begriffe wie „Pack“ oder „Pegida-Versteher“ verwendet, die vor allem eines tun: Spalten. Die Folge ist, dass man sich gar nicht mehr mit Inhalten beschäftigt, denn die können sowieso nicht stimmen, schließlich sind die Leute, die diese äußern, des Teufels. Nur, selbst bei den giftigen Pilzen findet man oft ganz schmackhafte. Oder im Taxi, da kann man auch von einem vermeintlich Dummen noch etwas lernen. Dazu muss man nur die giftigen von den schmackhaften Pilzen unterscheiden können, aber vor allem muss mann wirklich offen sein. Viele Menschen behaupten zwar, sie wären offen, allerdings sind die, die das betonen müssen, in der Regel die geschlossensten. Auch das sagt mir meine jahrelange Beobachtung im Taxi und meine eigene Lebenserfahrung. Fällt mir gerade noch ein: Hast du mal was von diesem Experiment gehört, wo man vermeintlich Dumme und vermeintlich Schlaue in jeweils eine andere Black Box gesetzt und diese mit Fragen gefüttert hat? Black Box deswegen, weil man nicht wusste, wo sitzt jetzt der eine und wo der andere drin. Auch anhand der Antworten konnte man am Ende nicht sagen, in welcher Black Box saßen jetzt die vermeintlich Dummen und in welcher die vermeintlich Schlauen. Interessant, oder?
06
Dass man von jeder oder jedem etwas lernen kann, sehe ich genau so. Nur mit deinem „spalten“ verstehe ich nicht ganz. Wenn ich etwas nicht will, was jemand anderes will, teile ich das doch auch mit, ist es mir wichtig, kämpfe ich dagegen an, da geht es doch um Inhalte. Beim Streiten kann man natürlich auch vom politischen Gegner etwas lernen, sollte auch die Möglichkeit offen halten sich überzeugen zu lassen, es muss um die Sache gehen, aber wir sind einfach keine einheitliche Masse, weder ein einiges Volk, noch eine einige Art. Wir haben unterschiedliche Standpunkte, wollen oftmals unterschiedliche Dinge. Und, weil das gut passt, zu deinem Pilzvergleich. Man muss nicht die giftigen Pilze von den schmackhaften unterscheiden können, man muss die giftigen Pilze von des essbaren unterscheiden, denn, wie du bereits weiter oben schriebest, giftige Pilze können durchaus schmackhaft sein. Wobei ich in diesem Falle Pilze nicht mit Menschen, sondern eher mit Ideen vergleichen würde.
07
Klar, auch ich kämpfe, beispielsweise gegen die Müdigkeit mangels Kundschaft bei mir im Taxi. In letzter Zeit immer öfter. Zum Glück gibt es genug gute Bücher und auch noch den ein oder anderen Radiosender, den man hören kann. Aber Leute, die permanent andere bekämpfen müssen, sind mir suspekt. In der Regel steckt da etwas anderes dahinter, wenn Menschen permanent in den Krieg ziehen müssen. Was irgendeinen „Standpunkt“ angeht, so hilft es oft weiter, zu verstehen, warum der andere, aber vor allem man selbst, diese oder jene Meinung hat. Da muss man aber auch vorsichtig sein, denn wer in die Tiefe geht, tut dies auf eigene Gefahr, meinte zumindest Oscar Wilde. Kollege Nietzsche hat sich übrigens auch schon zum „Standpunkt“ geäußert, und zwar wie folgt: „Überzeugungen sind schlimmere Feinde der Wahrheit als Lügen.“
08
Kollege Nietzsche in Ehren, aber ohne Überzeugungen hätte es nie irgendeinen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte gegeben. Außerdem kann man Überzeugungen auch ändern. Man kann von etwas überzeugt sein, bis man Zweifel hegt. Den Mut zu zweifeln, auch an eigenen Überzeugungen, halte ich für wesentlich. Dafür ist es nötig sich andere Standpunkte nicht nur anzuhören, sondern offen zu sein für abweichende Meinungen. Kampf oder Streit müssen nicht zwangsläufig im Krieg enden. ‚Die Wahrheit‘ übrigens war der Name der SEW-Parteizeitung in Westberlin.
09
Gucke an, die Parteizeitung der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins. („The West Is The Best!“) Und dabei gibt es „Die Wahrheit“ doch gar nicht. Was es wohl gibt, sind immer tiefere Wahrheiten. Das ist zumindest meine Beobachtung. Meine „Fortschrittsgläubigkeit“ hält sich dagegen in Grenzen. Seit einiger Zeit beobachte nicht nur ich, beispielsweise bei den immer zahlreicher werdenden prekärer Arbeitsverhältnissen, eher eine Rückentwicklung hin zum Feudalismus. Auch hier erlaube ich mir den Kollegen Nietzsche zu zitieren: „Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der ‚Fortschritt‘ ist eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance, Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.“
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Auch wenn ich nicht denke, dass die menschliche Evolution geradlinig verläuft, bin ich jedoch vollkommen anderer Meinung als Nietzsche. Ich denke insgesamt hat der Mensch und das menschliche Zusammenleben sich zum Besseren hin verändert. Von der romantischen Verklärung der Vergangenheit halte ich nichts. Frühere Ängste und Zwänge werden gerne verdrängt, das Schöne, die glorreichen Leistungen dagegen der Nachwelt weiter vermittelt. Meiner Meinung nach, lebten wir nie in einer angenehmeren Zeit als jetzt. Was nicht heißt, dass es da nicht noch jede Menge zu tun gebe. Vielleicht sind wir ja erst am Anfang?
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Eine Sache fällt mir noch ein in dem Zusammenhang, auch eine Beobachtung in meiner vielen freien Zeit bei mir im Taxi, die täglich, man kann förmlich dabei zusehen, mehr wird: Wir neigen dazu Dinge dahingehend wahrzunehmen, ob sie uns gefallen, in unser Weltbild, zu unserem bisherigen Denken passen oder nicht. Passen sie nicht, oder gefallen sie uns eins einfach nur nicht, wollen wir sie oft nicht wahrhaben. Wir tun sie dann gerne ab oder interpretieren unsere Wahrnehmungen um. Gar nicht mal nur, weil sie uns nicht passen oder nicht gefallen, sondern auch, weil damit automatisch unser früheres Denken falsch wäre. Es ist aber nicht nur das Denken, dass dann falsch wäre, sondern eigentlich das ganze Leben. Veränderungen sind sowieso immer schwer, und unter diesen Annahmen noch mal schwerer. Zum Schluss mal noch was anderes, sozusagen eine Fachfrage (im doppelten Sinne, denn du bist schließlich ein Mann des Wortes bzw. der Sprache): Wie sieht es aus in Carlisle mit dem Taxi? Gibt es noch welche, oder ist das Geschäft komplett in der Hand von Uber? Und ist dir auch aufgefallen, dass das Wort Taxi praktisch aus der Alltagssprache verschwunden ist, beispielsweise in Fernsehserien? Hast du mal jemandem sagen hören, er wäre Taxi gefahren oder hätte ein Taxi bestellt?
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Zu Ersterem, ja, diese Beobachtung teile ich. Und zu den Taxis, Carlisle ist ja eine Kleinstadt, noch dazu in den USA. In dieser Kleinstadt erreicht man ohnehin schon alles bequem zu Fuß, was die Leute natürlich trotzdem nicht davon abhält mit dem Auto zu fahren. Aber eben mit dem eigenen, weshalb hier manchmal selbst die Nebenstraßen in der Rush-Hour verstopft sind. Die Leute gucken dann immer ganz verwundert aus ihren Seitenfenstern heraus, wenn ich an ihrem Stau vorbei laufe. Kurz, ich denke, hier hätte nicht einmal Uber eine Chance. Das wird in New York sicher ganz anders aussehen.
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„You Can’t Walk!“ war auch eines der ersten Dinge, dich man mir in Amerika gesagt hat. Und manchmal stimmt das sogar, weil es gar keine Wege für Fußgänger gibt. Habe gerade mal das Internet befragt. Auch in Carlisle ist Uber aktiv, der Mindestpreis beträgt 7,50$. Lyft ist preiswerter, da geht es bei 4,90$ los. Man findet aber auch Taxifirmen aus Carlisle im Netz. Mitunter ist es schon schwer normale Taxen im Internet zu finden, weil Google mit Uber zusammen arbeitet. Fällt mir gerade noch ein: Die Berliner Zeitung hat in ihrem Beitrag vom 19./20. Januar den Satz „Ein Smartphone hat er nicht!“ über mich aus dem Netz gestrichen. Was dieser Satz in einem Beitrag zum Thema „Taxi vs. Uber“ zu suchen hatte, zumal mein Taxi über sämtliche Gerätschaften, darunter auch ein Smartphone, zur Auftragsübermittlung bis hin zur Kreditkartenzahlung verfügt, das konnte man mir aber nicht sagen. Die Streichung erfolgte aus „Kulanz“. Hast du eigentlich ein Smartphone oder auch nur ein Handy, so wie ich.
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Ich habe gar kein Mobiltelefon.
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